Ich bin die Mutter von Leonida, einem 12-jährigen autistischen Jungen. Wie alle Eltern von Kindern mit Behinderung bin ich zweimal Mutter geworden: das erste Mal, als ich meinen neugeborenen Sohn an mich gedrückt habe, und das zweite Mal, als wir die Diagnose erhalten haben. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nicht einfach nur Mutter sein würde, sondern dass ich mein Leben lang für meinen Sohn kämpfen müsste – um seine Rechte, um seine Stimme, um ihm einen Platz in einer Welt zu schaffen, die nicht für ihn gemacht ist.
Ich lebe im Tessin, in Bellinzona. Wie viele Tessiner bin ich mit der Überzeugung aufgewachsen, dass „drinnen“, jenseits des Gotthards (oder des San Bernardino…), alles besser sei: der öffentliche Verkehr, die Verwaltung, das Gesundheitssystem, die Schule. Doch dank der neuen Perspektive, die ich als Mutter eines Kindes mit Behinderung gewonnen habe, habe ich erkannt, dass ich – zumindest in einem dieser Bereiche – stolz auf meinen Kanton sein kann. Und noch besser: Ich kann das Tessiner Modell anderen Kantonen bekannt machen und vielleicht sogar dazu beitragen, den Blick auf Behinderung zu verändern, der noch immer zu sehr von Ableismus und Vorurteilen geprägt ist.
Ich bin die Mutter eines autistischen 12-jährigen Jungen. Aber ich bin vor allem die Mutter eines Jungen, der zur Schule geht, in der Mensa isst, mit mir einkaufen geht, den Bus nimmt. In all diesen Aspekten des Alltags wird mein Sohn so angenommen und akzeptiert, wie er ist – mit seiner Behinderung, nicht trotz ihr. Der Blick, den die Menschen auf ihn richten, ist ein freundlicher Blick.
Wenn ich mit anderen Eltern oder Fachpersonen aus anderen Kantonen spreche, wird mir bewusst, dass meine Erfahrung nicht die Regel ist – im Gegenteil. Ich kenne Kinder, die weit entfernt von ihrem Zuhause in separaten Einrichtungen unterrichtet werden und ab dem Alter von vier Jahren keinen Kontakt mehr zu Gleichaltrigen haben. In Genf dürfen Schüler aus Sonderklassen die Mensa nicht gemeinsam mit den anderen besuchen, es sei denn, sie bestehen eine Probezeit, in der sie beweisen müssen, dass sie „wie die anderen“ sind (auch wenn sie es nicht sind). Ich selbst wurde einmal in einer Seilbahn im Wallis aufgefordert, zu Fuss hinunterzugehen, weil das Verhalten meines Sohnes während eines vollständigen Meltdowns „nicht akzeptabel“ sei.
Ich denke, die Schule spielt eine grosse Rolle in der Erziehung zur Vielfalt und Toleranz – und im Tessin war die Schule schon immer eine inklusive Schule. Mein Sohn konnte teilweise den Kindergarten in einer Regelklasse besuchen, unterstützt von einer OPI (pädagogische Fachkraft für Inklusion), die ihn und die anderen Kinder bei der gegenseitigen Entdeckung begleitete. Die „gegenseitige Entdeckung“ in der Schule bezieht sich auf einen pädagogischen Ansatz, bei dem das Lernen keine unidirektionale Übertragung von Wissen vom Lehrer auf den Schüler ist, sondern eine gemeinschaftliche Reise, bei der beide durch Interaktion, Beziehung und Erkundung Wissen ko-konstruieren. Dieses Konzept bezieht sich auf dialogisches, kooperatives Lernen und Strategien, die das Wissen über sich selbst und andere schätzen, um ein positives Klassenklima zu schaffen und die Zusammenarbeit zu fördern.
In der Primarschule hat die kleine Klasse von Leonida viele Aktivitäten gemeinsam mit Parallelklassen durchgeführt. Jetzt, da mein Sohn die Sekundarschule besucht, sind schulische Inklusionsmomente seltener, dafür organisieren die Lehrpersonen viele Aktivitäten, die ich als „soziale Inklusion“ bezeichne: mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, einkaufen gehen, ein Croissant im Café bestellen, mit der Welt interagieren. Diese Gelegenheiten sind nicht nur für meinen Sohn und seine Mitschüler entscheidend, sondern auch für alle anderen – denn so wird die Gesellschaft aufgefordert, eine aktive Rolle bei der Aufnahme von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen des Alltagslebens zu übernehmen. Dieses Ziel lässt sich besonders dann erreichen, wenn Kinder in ihrem eigenen Quartier zur Schule gehen, weil sie die in der Schule gemachten Erfahrungen verallgemeinern können und weil ihre Lebensqualität nicht durch lange Schulwege beeinträchtigt wird.
Ich habe viel mit Lehrpersonen, mit betroffenen Familien in meiner Situation, aber auch mit Eltern von Kindern gesprochen, die in inklusiven Klassen oder bei gemeinsamen Aktivitäten mit Kleinklassen Mitschülerinnen oder Mitschüler mit Behinderung kennengelernt haben – für alle fällt die Bilanz positiv aus. Das zeigen auch die Statistiken: Tessiner Schülerinnen und Schüler schneiden nicht nur bei den PISA-Tests besser ab als der Schweizer Durchschnitt, sondern auch nach dem ersten Studienjahr. Studien bestätigen, dass ein Anteil von 15–20 % Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen sich nicht negativ auf die schulischen Leistungen der Klasse auswirkt (wie es politische Gegner der Inklusion behaupten), sondern im Gegenteil die sozialen Kompetenzen aller fördert. Diese objektiven Daten und die positiven Erfahrungsberichte, die ich gesammelt habe, bestätigen: Eine inklusive Schule ist nicht nur gerechter, sondern auch eine bessere Schule – für alle. Und genau diese Schule will ich verteidigen und bekannt machen, damit alle Kinder gemeinsam aufwachsen und eine Gesellschaft gestalten können, in der sich alle willkommen fühlen.
Fanny Merker
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